Führung und Selbstorganisation: Eine Gratwanderung, mit viel Fingerspitzengefühl und Erfahrung
Dies ist eine Geschichte über Selbstorganisation, Führung und Menschsein.
Ich war eingeladen, im Rahmen des Festivals Schmiede Hallein bei Gesprächen zum Metathema “No Plan” zu sprechen. Ganz nebenbei entdeckte ich dort lang praktizierte Selbstorganisation in Reinkultur. Was Führung in diesem Zusammenhang bedeutet erfuhr ich bei einem gemütlichen Abendessen mit den beiden Initiatoren und Organisatoren Rüdiger Wassibauer und Michael Hackl. Es war einer der seltenen Momente, in denen Menschen sehr ehrlich und ohne Eitelkeit über ihre Erfahrungen; Breakdowns und Learnings erzählen. Mit ihrer Erlaubnis gebe ich in meinen eigenen Worten wider, was ich auch in der Schmiede selber gesehen und gespürt sowie von ihnen verstanden habe.
Videoprojekt der Schmiede Akademie: Rüdiger Wassibauer (li), Michael Hackl (dritter von li), Bernhard Förg (re)
Die Schmiede Hallein ist mittlerweile eine Institution in der Kreativszene: seit 16 Jahren treffen sich jährlich Menschen unterschiedlichster Disziplinen zu einem 10 tägigen Festival in der alten Schmiede Hallein, ihre Selbstbeschreibung lautet so:
SCHMIEDE- PLAYGROUND OF IDEAS
Schmiede is a cooperative prototyping environment, focused on the arts, hacking and entrepreneurship. Schmiede is a place where our ideas come to play.
WE MEET FOR 10 DAYS …
… in order to get inspired, network, create, present, collaborate and exchange.
Hier herrscht der Geist der Kreativität, Innovation, Kunst, Kultur, der Ideen, des Austausches, der Co-Creation und der Kooperation.
Selten findet man so viel kreatives Potential an einem Ort: spannend ist allerdings nicht nur, was am Ende herauskommt, sondern vor allem der soziale Prozess, der sich über die 10 Tage des jährlich stattfindenden Festivals entfaltet. Hier finden sich fremde Menschen zu Projektteams, manche geben ihre eigene Ideen auf, um sich einer anderen anzuschließen und viele Ideen entstehen sowieso erst vor Ort.
Die sogenannten “Smiths”, die Schmiede, bewerben sich, zahlen 64 Euro plus ihre Aufenthalts- und Materialkosten. Sie checken ein, suchen sich einen Ort in den riesigen Räumlichkeiten, bauen ihre Materialien und teilweise imposanten technischen Gerätschaften auf und los gehts.
Auch wenn das Festival auf Selbstverantwortung und Selbstorganisation setzt, läuft es nicht von selbst. Selbstorganisation braucht ein gewisses Maß an Organisation und Führung, die ich hier ergründen möchte.
- Unter welchen Bedingungen findet Führung und Selbstorganisation statt?
- Nach welchen Prinzipien erfolgt Führung unter Selbstorganisation? und wie unterscheiden sich die Tools von herkömmlicher Führung?
Unter welchen Bedingungen findet Führung und Selbstorganisation statt?
- Führung findet hier unter besonderen Bedingungen statt und hat so gut wie nichts mit herkömmlicher Führung zu tun: es gibt keine Ziele, kein Budget, kein Mitarbeitergespräch, keine Boni, keine Disziplinarmaßnahmen, keine Rollenbeschreibungen.
- In der Schmiede herrscht das Prinzip der Selbstorganisation: die Initiatoren und Organisatoren greifen in keinster Weise inhaltlich ein oder wie sich die Teams formieren. Das heißt aber nicht, dass hier alles laissez-faire ist – die beiden Initiatoren und Organisatoren Rüdiger und Michael haben über viele Jahre Erfahrung gesammelt und gelernt, in welcher Form sie Führung sie geben können und müssen, damit der Raum offen und kreativ bleibt. Ihnen war klar, dass eine “alles geht” Kultur zu Chaos und Anarchie führt, in der nicht die Kreativität sondern die Stärksten siegen.
- Gleichzeitig haben sie es mit “Kreativen” zu tun, die sehr bedacht auf ihren Freiraum sind, sich mit Regeln grundsätzlich eher schwer tun und Autorität ungern akzeptieren, gleichzeitig aber nach Führung verlangen, wenn sie sich benachteiligt fühlen.
- Es gibt keine oder anders gesagt – nur – echte Autorität: Rüdiger und Michael sind keine Führungskräfte und die Smiths nicht ihre disziplinarisch untergebenen: formal haben sie keine Macht, außer die Rahmen zu setzen und die allgemeinen Regeln zu definieren.
- Sie müssen sich die Autorität verdienen und darauf achten, einmal sehr explizit, dann wieder fast unmerklich die Rahmen so zu setzen, sodass sie das kreative selbstorganisatorische Potential nicht stören oder gar zerstören, sondern überhaupt ermöglichen.
Nach welchen Prinzipien erfolgt Führung unter Selbstorganisation? Und wie unterscheiden sich die Tools von herkömmlicher Führung?
Das Duo entwickelte Tools und Haltungen, die sich aus meiner Sicht sehr gut auf klassische Organisationen übertragen lassen, wenn diese eine kreative und innovative Atmosphäre kreieren wollen. Denn Innovation und Kreativität lassen sich – wie viele erfahren mussten – nicht erzwingen oder mit Geld kaufen. Innovation entsteht nicht im Innovationsworkshop sondern gedeiht nur in einem ganz bestimmt Klima: Kreativität und Innovation sind wie kapriziöse Pflanzen, die sich nur unter bestimmten Bedingungen entfalten. Und dieses Klima zu schaffen ist Aufgabe von Führung, die sich sehr anders zeigt, als gewohnt.
So können wir von den Besten lernen: die Beiden haben verstanden, wie sich diese Atmosphäre Jahr für Jahr reproduzieren lässt und ich habe sie gefragt, wie sie das machen.
Hier findet sich eine – unvollständige – Liste der Learnings und wesentlichen Prinzipien für Führung, die Selbstorganisation in ihrer besten Form erst ermöglicht:
- “Alle Regeln gelten für uns genauso wie für alle anderen” Es gibt nicht viele Regeln, aber diese wenigen werden gewahrt. Die Führungsarbeit heißt hier: Regel aufstellen, Regel durchsetzen und einfordern, Regel selber einhalten. Eine Regel ist beispielsweise, dass um Mitternacht Schluss ist: Niemand übernachtet in der Schmiede, die Party ist dann zu Ende. Der Ort ist natürlich eine Einladung, die Nacht durchzumachen, tiefsinnige Gespräche bis in die frühen Morgenstunden zu führen oder einfach gleich auf der Couch liegen zu bleiben. Das wollten Rüdiger und Michael eines Jahres nicht mehr zulassen und engagierten einen Security, dessen herausfordernder Job es ist, die Schmiede zu räumen. Sein expliziter Auftrag ist es, auch und vor allem Rüdiger und Michael selbst die Türe zu weisen. Das Wichtigste daran ist die Persönlichkeit der Security Person. Hier ist die Kombination aus Freundlichkeit und Unmissverständlichkeit entscheidend.
- “Wenn wir entscheiden, dann entscheiden wir auch” Die Smiths werden dringend aufgefordert, aufkommende Spannungen selbst zu lösen: da gibt es Territorialkonflikte, Lärmstörung, ev. auch Konkurrenz. Besonders gegen Ende wird es schwierig, Entscheidungen müssen in der Gruppe getroffen werden: was geht sich noch aus? Was lassen wir? Was stellen wir aus? Und Vieles mehr. Sollten die Probleme unlösbar sein, kann Michael herangezogen werden. Er trifft eine Entscheidung, die dann für alle bindend ist. So ist die Vereinbarung. Die Leute sollten sich daher vorher überlegen, ob sie das wirklich wollen, sagt Michael mit einem Lächeln, das wie eine gefährliche Drohung wirkt 🙂 .. zu 95% werden die Probleme selber gelöst. Trotzdem gibt die Möglichkeit einer übergeordneten Autorität, die im Zweifel gültige Entscheidungen trifft, auch Sicherheit.
Wichtig ist den Beiden, dass sich nicht einfach die Stärkeren durchsetzen. Denn die Voraussetzungen sind nicht bei allen gleich, die Menschen haben unterschiedliche soziale Talente. - “Kollektive Probleme werden kollektiv gelöst, individuelle Probleme individuell” Rüdiger musste erst lernen, sich nicht für Alles zuständig zu fühlen. Heute holt er Smiths, die ihren Zug versäumt haben, nicht mehr irgendwo in der Pampa ab, oder fühlt sich für deren Unterkünfte zuständig oder ihre Ernährungsunverträglichkeiten. Er lässt die Verantwortung ganz bei ihnen und diese Klarheit macht alles Einfacher. Sie organisieren sich nun miteinander selbst.
- “Sog statt Druck” – in einem System, in dem man Personen nicht über Geld oder Druck in sein Projekt locken kann, muss man auf Sog setzen. Michael erinnert sich an einen Sommer, als er selber noch hauptsächlich “Smith” war. Er startete ein Musikvideoprojekt, das 30 andere Smiths anzog. Sie gaben ihre eigenen Projekt auf, um bei Michael mitzumachen. Er hatte plötzlich ein Riesenteam für sein Projekt zur Verfügung. Das war zwar nicht geplant, aber Michael weiß, wie er Menschen begeistern kann: nämlich indem sich seine eigene Begeisterung überträgt und Sog erzeugt. Ohne etwas zu Wollen oder zu Erzwingen kommen die Menschen ganz von selber, sogar auf Kosten ihrer eigenen Idee. Leadership at its best: wenn man andere hinter das eigene und dann gemeinsame Ziel versammeln kann.
- “Meine Ideen funktionieren meistens am Schlechtesten” Rüdiger weiß jetzt: “je weniger ich mache, desto besser”. Der ambitionierte Gestalter installierte beispielsweise ein Mentorenprogramm. Seine Idee war es, erfahrene Smiths und Experten zu nutzen, um jüngeren Smiths bei ihren Projekten zu helfen, sie zu unterstützen und sie zu coachen. Die Idee entstammte seinem eigenen Wunsch nach einem Mentor und auch aus seiner Beobachtung, “dass manche hier einen Mentor gut brauchen könnten”. Allein, die Mentoren wurden nicht angenommen, warum auch immer. Diese Erfahrung wiederholte sich, bis ihm klar wurde, dass die Ideen von den Smiths selber kommen müssen und diese dann sehr wohl funktionieren. Sich einlassen und selbst führen lassen – ich würde es “Co-Leadership” nennen oder eine co-arising Form von Führung.
- “Wir sind keine Kuratoren, wir bewerten die Projekte niemals inhaltlich” Damit vermeiden die beiden Konkurrenz und die Gefahr, dass die Smiths sich an Rüdigers und Michaels Vorstellungen orientieren. Sie wollen in keinster Weise inhaltlich intervenieren, der Raum soll wertfrei und offen bleiben. Es gehe darum den “Raum zu halten” – “Holding the space statt filling the space”, das haben wir schon oft gehört, hier lernen wir, was das tatsächlich heißt.
- “Ich habe herausgefunden, dass das Wichtigste ist, wie ich selber dreinschaue und drauf bin” – Michael zeichnet für die Werkschau verantwortlich. Am letzten Abend werden die Projekte in einer großen Ausstellung präsentiert, die Smiths sind aufgeregt, die Anspannung groß. Michael hilft bei der Präsentation sowie offenen Fragen und koordiniert die Ausstellung. Mit der Zeit wurde ihm klar, dass sich seine Energie und Stimmung auf das gesamte Gelände überträgt: “wenn ich nervös und angespannt dreinschaue, dann kippt auch bei den Smiths die Stimmung – schaue ich aber entspannt und freundlich, entspannen sich alle anderen mit”. Führungswerkzeug ist hier also der Gesichtsausdruck und die konkrete körperliche Präsenz.
- “Wir schützen das Ganze” Vor Jahren hatten sich aus “Labs” eigene Substrukturen gebildet – mit einer eigenen Identität und Kultur und Abschottungstendenzen zur Gesamtschmiede. “Eine Schmiede in der Schmiede” unter der Führung von erfahrenen Smiths. “Das mussten wir unterbinden, es hätte die Schmiede als Ganzes zerstört”. So wurden die Labs konsequent geschlossen, beleidigte Smiths blieben ein Jahr weg, kamen dann aber wieder zurück mit der Einsicht, dass dies die richtige Entscheidung war. Es braucht jemanden, der aufs gesamte System schaut, denn Teile haben die Tendenz sich selbst zu optimieren, auf Kosten des großen Ganzen.
- “Manchmal hilft es, einmal hart durchzugreifen” Vor Jahren entschloss sich Michael, einen nicht enden wollenden Streit mit einer radikalen Entscheidung zu beenden: er schloss den betreffenden Raum für die Werkschau, die “Bewohner” dieses Raumes mussten sich einen anderen Ort für ihre Projektvorstellung suchen. Diese Geschichte hat mittlerweile mythologischen Charakter angenommen und wird von Jahr zu Jahr weiter erzählt. Man weiß jetzt: Michael ist sehr nett, aber wenn nötig greift er auch hart durch. Somit muss er es nicht mehr tun.
- “Wir haben eine klare Aufteilung: Rüdiger ist der bad cop, Michael der good cop” Rüdiger hat seinen “grantigen” Gesichtsausdruck kultiviert, er verschafft ihm die Distanz und Autorität die er braucht, um Ordnung ins immer lauernde Chaos zu bringen. Dass die Leute ein ganz bißchen Angst vor ihm haben, ist hilfreich, sagt er lachend. Ich würde sagen: Respekt.
- “Wir haben viele Fehler gemacht und falsche Entscheidungen getroffen”. Das nennt man wohl lernen, wo geschmiedet wird, stoben die Funken. Es ist ein Lernprozess, der bei allen gemeinsam stattfindet und nicht aufhört.
Es gibt noch eine Dritte Person im Bunde, eine Frau, mit der ich nicht gesprochen habe: sie ist für die gesamten Operations zuständig und sorgt mit großer Klarheit dafür, dass niemand im Hof parkt, die Leute registriert sind oder sonstige große und kleine operative Details. Dies ist enorm wichtig, ich werde sie später noch befragen.
Mein Fazit: wenn man einen kreativen Raum schaffen will, dann MUSS man so führen, als ob man keine persönliche disziplinarische Möglichkeit hat: die Autorität bezieht sich dann nur auf den Rahmen, aber nicht auf den Inhalt oder die Person selbst. Die Führungskraft hat die Autorität, die Grundregeln zu formen, zu halten und ggf zu exekutieren.
Ich weiß, dass in Unternehmen andere Bedingungen herrschen, aber geht es nicht gerade darum, die Bedingungen so zu verändern, dass Neues entstehen kann? Und wieso nicht lernen von jenen, die gelernt haben unter schwierigen Bedingungen kunstvoll zu führen?
Werkschau: Rüdiger, Michael und ich