“Weniger ist mehr” – langsam, sehr langsam, dafür aber umso intensiver wird mir die Wucht dieser 3-Wort Aussage klar.
Wir leben in einer permanenten Realität von “mehr ist mehr” und “weniger ist weniger”.
Dieser ganz wuchtige Glaubenssatz wurde uns tief eingeimpft: mehr Konsum sei besser. Mehr Umsatz – jedes Jahr – ist besser. Mehr Geld ist besser, mehr Erleben, mehr Freunde, mehr Kinder, mehr Eigentum, mehr Erfolg, mehr Prestige, mehr Schönheit, mehr Action, mehr Reisen, mehr Erleben, mehr Yoga, mehr gesundes Essen, mehr mehr mehr. Das Problem mit dem mehr und dem zu viel ist bloß, dass wir rasch abstumpfen, die Empfindsamkeit sinkt, der “Grenznutzen” wie man in der Volkswirtschaft sagt: das heißt übersetzt, freuen wir uns noch unglaublich über die erste Markenjeans, so existiert diese Freude bei der zwölften nur mehr im Moment des Kaufes, danach wird sie rasch zur Last.
Der Grenznutzen transformiert sich dann in Grenzkosten, jedes MEHR wird zur Last und wendet sich gegen uns.
Aber das merken wir nicht, denn wenn es sich nicht mehr so gut anfühlt, dann glauben wir: ah, zu wenig, wir müssen die Dosis erhöhen. Wie bei Heroinabhängigen, die irgendwann Heroin brauchen um den gleichen Level an Wohlbefinden zu erlangen, den sie früher ganz ohne Heroin, ganz von selber hatten. Um noch irgendwas zu spüren, brauchen sie nun eine sehr hohe Dosis. Der Körper macht zu, wie bei schwerhörigen DJs: der Körper schützt sich vor dem Dauerlärm in dem er die Schwelle, ab der er hört hinaufsetzt, Pupillen werden kleiner, wenn die Helligkeit zu groß wird und offener, wenn es dunkel wird. Viele von uns kennen das Gefühl, dass uns nach einer Phase des Zuckerfastens alles so picksüß erscheint, was wir davor als normal empfunden haben.
Um uns also mehr zu spüren, machen wir genau das Falsche: wir erhöhen die Dosis, stumpfen dabei immer mehr ab und glauben, dass wir noch nicht genug haben.
Wenn wir aber das Gegenteil tun, nämlich weniger essen, langsamer gehen, bewusster leben, signalisieren wir dem Körper: Hab keine Angst, ich bedrohe Dich nicht mit ständiger Überlastung an Lärm, Aktivität, Stress, Sprechen und Action, und dann passiert etwas ganz Wunderbares.
Die Körper und Geist entspannen und öffnen sich und Sinne schärfen sich, werden sensibler, empfindsamer und Kleinigkeiten, die wir davor kaum oder nur nebenbei bemerkt haben, werden zu einem berauschenden und sinnlichen Erlebnis: das Gefühl in eine warme Badewanne zu steigen, barfuß im nassen Gras zu gehen und die Fußsohlen so empfindsam wie Hände zu erleben, wenn man sich eine gute Speise in einer Geschmacksexplosion auf der Zunge zergehen lässt und das Zwitschern der Vögel kein Hintergrundgeräusch mehr ist, sondern wie ein Wunder selbst erscheint.
Wenn sich zwischen den Geräuschen Stille und zwischen den Bewegungen Ruhe ausbreiten kann, gewinnt das Leben an Tiefenschärfe, wie wenn man aus einem Zwei-in den Dreidimensionalem Raum tritt.
Wenn Mehr aus dem Weniger entsteht, hat es eine völlig andere Qualität als das Mehr, das aus dem Mehr entsteht.
Mit mehr und mehr kann ich vielleicht die Fläche vergrößern aber niemals die Tiefe des Erlebten. Daher ist weniger mehr – viel mehr sogar.
Titelfoto: Wahiba Sands / Oman
Ein wunderschöner Text, danke sehr! 😊 Liebe Grüße Birte
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Sehr gerne, freut mich!!!
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Its great and its truth.
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