Parasitäre Anstrengung ist ein schöner Begriff den ich erst kürzlich während einer  Feldenkrais Session aufgeschnappt habe. Dieser Begriff beschreibt sehr plastisch eine überflüssige, ja sogar schädliche Form von Anstrengung, wenn wir Bewegungen mit Kraft und Anstrengung durchführen, anstatt die natürlichen Hebelbewegungen, Schwung, Schwerkraft etc zu nutzen.

“Gesunde, natürliche Bewegung entsteht, wenn man über seine Kraft so verfügt, dass man sie entsprechend der Absicht und den zur Verfügung stehenden Mitteln einsetzt, ohne dabei parasitäre (also überflüssige, der Handlungsabsicht entgegen laufende) Bewegungen auszuführen.” (Quelle)

Wir hieven uns mühsam und mit Oberschenkelkraft aus dem Fauteuil, anstatt mit Schwung aufzustehen. Wir gehen steif und verkrampft, anstatt uns von den Drehbewegungen der Wirbelsäule nach vorwärts tragen zu lassen. Wir übernehmen einmal angelernte Bewegungsmuster in den Autopiloten, ohne jemals zu hinterfragen, ob die uns noch gut tun, angenehm sind und mit Leichtigkeit ablaufen.

Wir übernehmen also einmal funktionierende und angelernte Varianten und sind dann zufrieden damit sind. Als Kinder/Jugendliche hat man uns vielleicht gesagt: “Halt dich gerade, Brust raus, Bauch rein (uns Mädchen), wackel nicht so mit dem Popo!” Daraufhin haben wir uns unnatürliche, steife und auch anstrengende Bewegungsmuster angewöhnt, die zu unserer Identität geworden sind. Wir denken: “So bin ich, so gehe ich, so sitze ich, fertig”.

Das einmal eingelernte Programm wird ausgeführt, ohne Bewusstheit und ohne den geringsten Wunsch, nach Alternativen Ausschau zu halten.

Dazu kommt noch unserer ethisch-moralischer Wertekomplex: ohne Fleiß kein Preis, Anstrengung muss sein, Mach’s Dir nicht zu einfach, streng Dich an.

Tatsächlich gibt es Bereiche, in denen wir uns anstrengen wollen/müssen, wir uns nach der Decke strecken, wir Ziele verfolgen, die uns Einsatz, Schweiß und Tränen abverlangen. Auch hier können wir darauf achten, wann die Anstrengung produktiv und in der maximal möglichen Leichtigkeit erfolgt und wo wir unnötige Energie verschwenden.

Die parasitäre Anstrengung macht aber nicht bei unserer Bewegung halt, sondern sie breitet sich in unsere Leben, unsere Gedanken aus bis hin in die Unternehmen im speziellen und die Gesellschaft im Allgemeinen.

Überall begegnen wir ihr: unnötige und umständliche Prozesse, überflüssige Projekte, ressourcenverschlingende Institutionen (Kammern), unnütze Termine, überbordende Bürokratie, kraftraubenden Gedanken, unproduktive Ängste (die genau wo sind, wenn wir nicht daran denken), sinnlose Gespräche, energiesaugende Menschen.

Meine Vermutung ist auch, dass Phänomene wie Burn-Out, kollektive Erschöpfung, Depressionen etc mit dieser Form der Anstrengung zu tun haben könnten, individuelle und kollektiv. Die Ausführung von Aktivitäten, die sinnlos und unproduktiv sind und noch dazu unnötig anstrengend.
Also nicht nur WIE wir die Dinge tun, sondern auch WAS wir tun. Ein Beispiel sind die vielen unnötigen Gegenstände, die wir anhäufen und verwalten müssen. Beziehungen, die uns nicht mehr nähren. “Jobs”, die völlig überflüssig sind. Komplizierte Budgetprozesse. Energieraubende Ernährung.

 

Es ist ja auch anstrengend, alles zu hinterfragen, es ist allerdings auch anstrengend, alles NICHT zu hinterfragen. Was, wenn es eine Variante gibt, die uns und unserem Körper weniger Kraft anverlangt, weniger Zwang auferlegt und mehr Eleganz und Leichtigkeit erlaubt?

Bewusstsein und Aufmerksamkeit als Schlüssel zur Leichtigkeit und Entwicklung

Feldenkrais lehrt uns Folgendes: sobald wir unserem Leben, unseren Bewegungen, unseren Gedanken Aufmerksamkeit schenken, sie wahrnehmen und in Bewusstheit durchführen, regelt sich alles von selbst. Dann fällt uns nämlich auf, was wir tun und vielleicht sogar warum. Wenn uns auffällt, dass wir uns mit Krampf und Kampf im Leben bewegen, wollen wir es vielleicht nicht mehr und probieren Neues aus (das nennt man dann Lernen). Wenn es uns gut tut, so verstärken wir dieses Verhalten (das nennt man auch Lernen).

 

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Zum Beitragsbild: diese Ziegen auf dem Baum aus Marokko sind für mich ein Beispiel für Anstrengung, die NICHT parasitär ist. Die Ziegen wollen an die feinen zarten Blätter herankommen, gehen dafür die extra Meile, aber mit der ihnen innewohnenden Eleganz und Leichtigkeit. Sie sind frei von Konzepten über Bewegung und Moral.

 

https://de.wikipedia.org/wiki/Feldenkrais-Methode

https://feldenkraisleipzig.com/2012/09/10/die-kunst-naturlicher-bewegung/

Bewusstheit statt Anstrengung – Feldenkrais für Organisationen

Erschöpft statt erfüllt