Eigentlich will ich ein paar Spenden abgeben. Duschgels und so. Dann fragt jemand von der Caritas, ob hier freiwillige Helfer sind. Ich sage einfach mal: ja. Ich war eigentlich zum Essen verabredet, das wurde gerade abgesagt und der Cafe bei der Großmutter kann auch warten. Dank Handy kann ich einen Kundentermin tadellos noch im Caritaslager vereinbaren.

10 Minuten später stehe ich in einem grünen Caritas Leiber am Bahnsteig 1b. Vor mir Wagerl mit Bananen, Brot, Nüssen, Duschgels, Windeln. Dahinter stehen wir, die Freiwilligen. Auf dem Bahnsteig sitzen, liegen und stehen Leute und warten. Sie schauen freundlich, verzweifelt, traurig, glücklich aus.

Eine junge Frau sitzt am Boden und weint. Sie und ihre Freunde hatten 4 Tage nichts zum Essen und Trinken bekommen, erzählt mir die junge syrische Übersetzerin. Sie friert offensichtlich und ihr Turnschuhe hängen halb von den Füßen, durchgetreten. Ich habe gerade Zeit, kein neuer Zug da, die Leute versorgt und  hole eine Jacke, Schuhe, Haube, T-Shirt für sie. Sie strahlt, zieht sich um. Eine Stunde später, ich gerade woanders, kommt sie auf mich zu. Sie hat mich offensichtlich extra gesucht, um sich nochmal zu bedanken. Wir umarmen uns und ich wünsche ihr viel Glück. Weg ist sie.

Im Laufe des Nachmittags kommen immer wieder Züge an, meistens überraschend. Plötzlich da, die Leute strömen raus und auf uns zu. Viele junge Männer, dazwischen Frauen und Kinder. Alle sind unglaublich diszipliniert, sie stellen sich an, sie greifen schnell zu, aber es kommt zu keinen Reibereien. Niemand versucht, etwas aus unseren Reservewägen hinter uns zu nehmen. Als ich vor 20 Jahren am Donausinselfest Pfirsicheisteeproben verteilt habe, wurden wir fast in der Luft zerrissen. Die Leute haben das Zelt aufgeschnitten und hinten die Eisteepackerl rausgeholt. Und die waren eindeutig nicht auf der Flucht.

Ich gehe mit offenen Augen über den Bahnsteig. Zwei Männer sprechen mich an: ihrem Freund sei übel, er müsse sich übergeben. Er sagt deutet auf seinen Magen und ich sehe, dass es ihm gar nicht gut geht. Ich begleite ihn zur “Ambulance” des Roten Kreuzes. Ein Sanitäter nimmt den Mann liebevoll entgegen und führt ihn in die Station. Ich weiß, sie werden sich gut kümmern. Ich gehe zu den Männern und sage ihnen, dass ihr Freund jetzt beim Arzt ist, “your friend will be OK!”. Sie danken mir. Ich habe keine Ahnung, ob er OK sein wird. Eigentlich ist gerade gar nichts OK.

Die Leute bedanken sich und sind sehr respektvoll. Manche bringen Sachen zurück, die sie doch nicht brauchen. Wenn etwas aus den Wagerl auf den Boden fallt, heben sie es auf.

Eine Putztrupp einer selbstorganisierten Gruppe junger in Wien lebender Syrer kommt und macht alles sauber. Ich erkenne darunter auch einige der Leute, die aus dem letzten Zug gekommen sind und sich offensichtlich spontan angeschlossen haben. Sie machen alles blitzblank, mit Schildern am Rücken: “Als Dankeschön der Syrer an die ÖBB”. Wir klatschen, lachen und johlen, bedanken uns. High Life am Bahnsteig.

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Manche erzählen von Ungarn: wie sie um 110 Euro Tickets nach München gekauft haben und dann am halben Weg aussteigen und zu Fuß gehen mussten. Wir schrecklich sie behandelt wurden. Wie dankbar sie jetzt sind.

2 Männer stehen in einer kurzen Hose und Flip-Flops vor mir. Es ist richtig kalt. Ich sage ihnen: ihr braucht gute Schuhe – und bitte einen der Übersetzer, die Beiden zum Caritas Lager zu begleiten, das außerhalb des Bahnsteiges liegt und nicht ganz leicht zu finden. Eine Stunde später kommen sie wieder und präsentieren stolz ihre festen Schnürschuhe, Hosen und Jacken. Wir lachen und sagen: das ist der letzte Schrei, so können sie auf den Laufsteg… Wir finden weitere Männer, wieder ohne Jacken. Ihnen ist kalt. Wir führen sie zum Caritas Lager, das voller Menschen ist. Sie müssen draußen warten, es regnet. Ich sage, es tut mir leid, sie können sicher gleich hinein. Sie lachen und sagen, das ist doch kein Problem.

In der letzten Lieferung waren kleine Twix. Die gold verpackten Süßigkeiten sind der Renner. Wir verteilen sie mit der Hand, damit möglichst viele etwas davon haben, auch die Kinder und Frauen, die manchmal abgedrängt werden. Vor mir so viele Leute und muss immer wieder entscheiden.

Dann steht vor mir ein junger Mann mit blonden Locken. Er könnte mein Neffe sein. Ich gebe ihm ein Twix in die ausgestreckte Hand, doch dann nimmt er es doch nicht und verweist auf die Kinder: ich solle es ihnen geben. Was für eine Größe in der kleinen Geste. Ich suche etwas anderes für ihn. Ich möchte ihm unbedingt etwas geben und beobachte, dass ich einfach durch die Tatsache, dass er blond ist, etwas mit mir macht. Ich fühle mich ihm näher als anderen und bin noch mehr berührt.

Wir schauen uns in die Augen und es ist völlig klar: er hat nichts falsch gemacht und ich nichts richtig, dass ich auf der dieser Seite stehe. Es ist einfach so.

Wir scherzen mit den Leuten und reden einfach. Sie bedanken sich die ganze Zeit und ich sage ihnen: das nächste Mal helft ihr vielleicht uns. Man weiß nie, in welche Situation man kommt.

Die Leute haben Smartphones, schauen tlw.sehr gepflegt aus und achten auf sich, soweit möglich. Haargel ist DER Hit. Man sieht, dass die Leute keine sogenannten “Wirtschaftsflüchtlinge” sind. Sie hatten ihre normalen Leben, sie hatten Smartphones schon vor der Flucht, sie hatten einen Standard. Sie haben ihre Smartphones mitgenommen. Viele sind trotz ihres Standards geflohen, weil die Situation lebensgefährlich war. Nicht, weil sie so arm waren. Deswegen haben sie auch ihre Phones. Und ohne diese wären sie von der Kommunikation abgeschnitten.

Ein neuer Zug kommt, voll mit Menschen. Das Essen wird knapp. Es gibt jetzt vor allem Äpfel und Brot. Immerhin.

Es ist unglaublich, wieviele Spenden die Leute bringen und jedes einzelne Stück wird gebraucht und dankend genommen. Jedesmal wenn ich vom Bahnsteig zum Lager gehe, drücken mir Menschen Spenden in die Hand: Jacken, Bananen. Ich bedanke mich und nehme alles mit.

Im Bahnhofsgebäude treffe ich eine Freundin. Sie ist schon tagelang im Einsatz und sie weint. Sie sagt, sie kann nicht mehr, es ist einfach so grauenhaft, wie es den Menschen geht. Wir sind beide Anfang 40 und vermutlich das erste mal so direkt mit menschlichem Leid und Elend konfrontiert, und zwar nicht in der Ferne, sondern bei uns am Westbahnhof. Das ist neu.

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Ich gehe durch den Westbahnhof. Die Geschäfte, die Lokale sind geschäftig und voll von Nicht-Flüchtlingen. Ich gehe vorbei am Starbucks und sehe zwei junge Frauen über ihren Cappuccinos, sie lachen und reden. Irgendwie auch beruhigend. Alles ganz “normal”. Es sind wie 2 Universen in einem. Oben die Bahnsteige, die abgeschottet sind und im Bahnhof drinnen business as usual.

Am Bahnsteig derweil immer mehr Menschen, sie sitzen teilweise am nackten Boden. Mir wird auch kalt, ich habe nur eine dünne Jacke und ein T-Shirt, ich war nicht vorbereitet. Ich finde einen Korb mit Kleidung und gehe damit herum. Ich sehe ein Mädchen, das friert und binde ihr einen bunten Schal um. Sie freut sich so sehr und zeigt allen stolz den Schal. Ein anderes Mädchen kommt und ein Mantel passt perfekt. Wir bewundern sie in dem schönen neuen Mantel und sie dreht sich im Kreis. Ein kleines Kind bekommen einen Biene Maja Pullover. Anderen ist mit einer Decke geholfen. Manchen gar nicht. Ich bin dankbar, dass die Leute ihre Kleidung gebracht haben und sie jetzt verteilen haben.

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Ein Asiastand hat eine mobile Küche aufgemacht und verteilt warme Gemüsenudeln, ein paar Glückliche kommen damit vorbei spaziert und zeigen uns, was sie bekommen haben. Sie freuen sich unendlich über eine richtige warme Malzeit. Möglicherweise die erste seit Langem.

Mein Mann kommt, ich habe bei ihm Chips und Deos bestellt. Und er bleibt ebenfalls. Ich gehe auch noch schnell zum Drogeriemarkt, kaufe alle Haargels, die es gibt. Alles sofort weg. Ein Tropfen auf den heißen Stein, es ist auch zum Verzweifeln. Aber für die Einzelnen irgendetwas, das ihnen das Gefühl von Würde und Trost gibt.

Die Zusammenarbeit vorort ist grandios. Alle sind freiwillig da, deswegen motzt auch niemand oder regt sich auf. Alle packen zu, wo es gebraucht ist und bei unserer Station organisieren wir uns in Windeseile. Wir haben innerhalb von ein paar Stunden ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt und verständigen uns auf kurzen Zuruf. Leere Wagerl runterbringen, Nachschub organisieren, Leute zum Lager führen, jeder macht was nötig ist, ohne Diskussion.

Es wird hektisch, das Essen geht aus. Wir laufen mit den Wagerl hinunter, sind zu dritt und wollen mit 3 gefüllten Wagerl schnell zum Bahnsteig hoch. Die Koordinatorin unten gibt Anweisung, jeweils 2 Leute je Wagerl “sonst bricht Chaos aus”. Sie hat aber niemanden bei der Hand, wir müssten 2mal gehen. Wir wissen, das dauert viel zu lange, die Wege sind doch weit und die Bahnsteige voll. Plötzlich sind wir dann doch unterwegs, mehr Wagerl als Leute. Wir bilden eine Kette und bringen den Nachschub schnell und sicher zur Station. Niemand hat uns geplündert.

Das Caritas Team leistet Unglaubliches. Wie schaffen die das?

Ich treffe meine Großtante. Sie ist auf der anderen Station und verteilt Windeln. Sie sagt, sie konnte nicht anders. Es täte ihr selber auch gut. Und dass sie öfters abgewiesen wurde, weil genug Helfer da wären, aber doch geblieben ist und dann hieß es irgendwo, sie würde dringend gebraucht. Einfach hingehen.

Mit dem Caritas Leiberl habe ich es gut. Ich kann überall durch und das hilft. Manchmal macht die Polizei zu, aber sie sind alle sehr freundlich und zurückhaltend. Ich wundere mich, wie gut alles geht.

Die Klos sind sauber. Die Türen sind offen und die Klofrau leistet Unglaubliches, es sind so viele Leute dort und sie hält es superfein sauber. Auch das gibt Würde. Danke an sie!

Im Caritas Lager sind Freiwillige und Caritas MitarbeiterInnen, die den ganzen Tag sortieren und schlichten. Sie sind Helden, denn sie bekommen keinen direkten Dank und schauen nicht in die glücklichen Gesichter. Sie sind im Hintergrund und machen alles möglich.

Überall Leute, die fotografieren, viele Kamerateams und Fotografen. Meine Taufpatin ruft heute an, sie habe mich auf einem Foto im “Österreich” gesehen. Klein, aber klar erkennbar. Zweifelhafte Ehre. Ein amerikanischer Sender interviewt mich: warum ich da sei, welche Güter wir für die Leute hätten, was der Unterschied zu Ungarn sei.

Alle wollen nach Deutschland, vor allem, weil sie sich in Ungarn registrieren mussten. Sie haben Angst, wieder dorthin zurück zu müssen. Sie haben Angst, dass sie den Zug versäumen.

Ich könnte noch ganz viel schreiben und merke, dass es mir heute die Tränen in die Augen treibt, gestern war ich eigentlich ganz ruhig und konzentriert. Schreiben hilft mir, das Erlebte zu verarbeiten. Ich möchte die Erfahrung mit allen teilen, die nicht die Möglichkeit haben, am Bahnhof zu stehen, sondern die vielleicht spenden: Geld, Kleidung und Essen. Damit sie wissen, wie es sich anfühlt und dass sie etwas Wichtiges machen, auch wenn sie es nicht selber verteilen können. Mein Beitrag ist ein winziger gewesen für die Welt, und eine wichtige neue Erfahrung für mich. Ich mag wieder hingehen. Mein Leiberl habe ich allerdings dort gelassen, für andere. Ich hoffe, ich krieg wieder eins.

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Und warum diese “BahnhofOrganisationen” so gut funktionieren und was Unternehmen davon lernen können, habe ich in meinem neuesten Post analysiert.

Gedanken einer Helferin bei Train of Hope: http://www.viennella.at/neun-wochen-train-of-hope/

Interessanter Artikel aus dem Tagesanzeiger, der die aktuelle Situation von Helfenden und Flüchtenden gut erklärt